Digitaler Angriff auf die Psyche: Diese Gefahren lauern im Internet
Heiratsschwindler:innen sind kein Produkt längst vergangener Zeiten. Sie haben nur den Ort der Anbahnung gewechselt. Auch heute plündern sie Bankkonten und zerstören Herzen – und zwar im Word Wide Web. Darin hat sich mit dem Love Scamming ein neuer verbrecherischer Geschäftszweig entwickelt.
Maria steht am Flughafen. In der vor Aufregung zitternden linken Hand hält sie eine Packung Katzenzungen. Seine Lieblingssüßigkeit aus Kindertagen. In der rechten Hand eine Flasche Sekt. Auf die Verlobung soll schließlich gleich angestoßen werden – selbstverständlich erst nachdem sie Tom zum ersten Mal nicht nur in ihrer Fantasie, sondern ganz real auf die Lippen geküssten haben wird.
Wenige Frauen hatten Gerd jemals so viel Respekt und Bewunderung abgerungen wie Jana. Abgesehen davon, dass sie bildhübsch und dazu noch intelligent war, hatte ihr Wortwitz ihn von der ersten Sekunde an wirklich verzaubert. Und erst ihre Stimme – etwas so Charismatisches hatte er noch nie gehört.
„Kein Geld an Fremde überweisen“ – daran hielt sich Julia strikt. Aber James war eben kein Fremder. James war ihr näher als jeder andere Mann in ihrem Leben bisher. Er verstand sie besser, als jede Freundin in den letzten Jahren. Er war nicht unbekannt. Er war nicht fremd. Er war eben bisher nur noch kein physischer Teil ihres Lebens.
Betrüger:innen spielen mit der großen, wahren Liebe, um an Geld zu kommen
Maria, Gerd und Julia auf der einen Seite. Tom, Jana und James auf der anderen Seite? Nicht ganz. Denn Tom, Jana und James könnten in unseren drei Beispielen ein- und dieselbe Person sein. Und zwar eine, die im polizeilichen Fachjargon „Love Scammer“ genannt wird. Dabei handelt es sich um Betrüger:innen , die auf die hinterhältigste Art ihre Opfer für sich einnehmen. Indem sie den Wunsch nach Liebe und Nähe auf die dreisteste Weise ausnutzen. Am Schluss wollten alle drei Geliebten Geld. Der Ablauf war ähnlich: Jana war aus beruflichen Gründen in Westafrika, James arbeitete saisonbedingt im Ausland und Tom besuchte seine ausgewanderte Schwester. Sie alle ereilte eine plötzliche und natürlich unverschuldete Notlage – Pass weg, Geld weg, Kreditkarte kaputt. Und Maria, Gerd sowie Julia kamen der Bitte nach dem Bargeldtransfer bereitwillig nach.
Methoden der Täter:innen entwickeln sich weiter
Die Polizei warnt immer wieder vor unterschiedlichsten Gefahren aus dem Internet: Schadsoftware, Viren, Hacker, Erpressungen, angebliche Prinzen, die ihr Erbe mit Ihnen teilen wollen und gefälschten Mails, die jenen der eigenen Hausbank täuschend ähnlich sehen. Und die so manche Menschen dazu bewegen, ihre gesamten Bankdaten an Betrüger:innen herauszugeben. Erkannte man solche Betrugsmails früher an dem teils lächerlich schlechten Deutsch oder den peinlich gefälschten Logos, entwickelt sich die Masche der Online-Betrüger:innen heute leider immer weiter. Manche Phishing-Mails stehen heute tatsächlich sprachlich und optisch der digitalen Post einer echten Bank in nichts nach. Und genau diese Weiterentwicklung ist auch das Problem bei einem besonders perfiden, kriminellen Geschäftszweig, der eine der größten, digitalen Gefahren für die Psyche darstellt: Love Scamming oder auch Romance Scam genannt. Mehr dazu auch hier.
Erkannte man früher die „digitalen Heiratsschwindler:innen“, wie sie auch genannt werden, noch oft an ihrem schlechten Englisch, ihren unrealistisch schnell aufkommenden und schwülstigen Liebesbekundungen oder daran, dass sie bei so manchen Rückfragen ins Stocken gerieten, so sind viele Täter*innen heute wesentlich fachkundiger organisiert: Professionelle und kostspielige Übersetzungstools, absolut glaubhaft wirkende digitale Identitäten, Netzwerke an Models, die sich via Skype-Video und Telefonat mit den Opfern unterhalten, raffinierterer, langsamerer und realistischerer emotionaler Näheaufbau. Das alles sorgt dafür, dass es heute leider keine besondere Naivität mehr braucht, um auf die Liebesbetrüger:innen hereinzufallen. Gerade das erschüttert viele betroffene Opfer nachhaltig bis ins Mark.
Unendliche Scham bei gebrochenem Herzen
Zahlreiche Liebesschwüre und viele tausend Euro später haben Maria, Gerd und Julia realisiert, dass am anderen Ende des Computers nie die große Liebe saß. Sondern immer ein perfides Netzwerk aus dreisten Kriminellen, das sich zu einem grausamen Geschäftszweig zusammengeschlossen hat. Das emotionale Loch, in das die drei fielen, war tief. Sehr tief. Hilfe holten sie sich keine. Angezeigt haben sie die Täter:innen nicht. Denn sie selbst waren am meisten schockiert, dass gerade ihnen das passieren konnte.
Auch ich bin in meiner Arbeit immer wieder zutiefst betroffen, welche unglaublich großen Krater diese ganz spezielle Betrugsmasche in den Herzen der Betroffenen hinterlässt und wie perfekt dieser Geschäftszweig funktioniert. Das Spiel mit den intimsten und größten Gefühlen von Menschen bestürzt mich auch nach all den Jahren in der Beratungspraxis immer wieder. Denn die Opfer verlieren meist mehrfach: Ihr Geld – aber vor allem ihren Glauben an die Liebe und ihre Vertrauens- sowie ihre Bindungsfähigkeit bzw. den Willen, überhaupt jemals wieder eine Partnerschaft einzugehen. Viele Opfer geben den Wunsch nach Beziehung auf – und manchmal auch sich selbst. Love- bzw. Romance Scamming ist also nicht nur ein Angriff auf das Bankkonto, sondern vor allem ein Angriff auf die Psyche. Besonders tragisch dabei: Die Scham der Opfer ist bei diesem Verbrechen oft so groß, dass sie sich keinen emotionalen Beistand leisten, um das tragische Erleben zu verschmerzen und es somit zu bewältigen.
Was tun als Opfer von Romance Scamming?
Auf dieser Seite finden Sie hilfreiche Tipps, mit denen Sie potenzielle Täter:innen erkennen können. Wenn Sie befürchten, dass Sie bereits Opfer von Romance Scamming geworden sein könnten, wenden Sie sich im ersten Schritt an die Polizei. Sie werden sehen, dass die Polizist:innen große Erfahrung mit dem Kriminalbereich des digitalen Liebesbetrugs haben und dass dieser Betrug nicht Ihnen alleine widerfahren ist. Die Erfahrung zeigt, dass im Anschluss eine zeitnahe Psychologische Beratung ein wichtiger Teil sein kann, um trotz dieses Erlebens wieder vertrauensvolle Bindungen eingehen zu können. Sollte Sie vorerst Ihr Erlebnis noch nicht als persönliches Schicksal im Zuge einer Beratung thematisieren wollen, so können Sie sich dem Thema im ersten Schritt in unserer Online-Fortbildung nähern.
Silvia Podlisca
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