Der Traum von der eigenen Praxis – vom Sinn und Unsinn der Selbstständigkeit
Wenig wird gleichermaßen so unterschätzt und überschätzt wie der Schritt in die Selbstständigkeit im psychologischen Beratungsbereich. Dieser Blog richtet sich an alle angehenden Berater*innen, die sich mit dem Gedanken spielen, sich selbstständig zu machen. Denn es gibt viele gute Gründe, die dafür sprechen, aber auch gewisse Warnsignale, die von der Selbstständigkeit (erst einmal) abraten möchten. Ein Überblick.
Der Bedarf an psychologischen Angeboten ist in diesen Tagen so groß wie nie. Das Bewusstsein für die Wichtigkeit von psychologischer Beratung und die Akzeptanz der Gesellschaft für selbige hat sich durch die für nahezu jeden spürbaren, emotionalen Auswirkungen der Corona-Krise deutlich erhöht. Es ist vielleicht also einer der idealsten Zeitpunkte seit jeher, sich im Bereich der psychologischen Beratung selbstständig zu machen.
Trotzdem ist der Schritt in die Selbstständigkeit einer, der von den einen zu sehr gefürchtet und von den anderen zu leichtfertig gegangen wird. Nach der Leitung von mittlerweile 17 Ausbildungsjahrgängen der Berufsausbildung zum/zur Diplomierten psychologischen Berater:in habe ich immer wieder mit einer gewissen Wehmut beobachtet, wie gerade fachlich hochqualifizierte Absolvent:innen des IFGE häufig besonders intensiv damit kämpfen, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen, während ich gleichzeitig gerade zu Beginn häufig übermotivierte Schüler*innen gerne ermutige, noch ein wenig zu lernen, bevor sie drauf und dran sind, den Quellberuf sofort zu kündigen und sich in einem sehr frühen Ausbildungsstatus in einer Praxis einzumieten.
Geld für psychologische Beratung zu bekommen, ist häufig große Hemmschwelle
Sowohl aufgrund der Sorgen und Befürchtungen meiner Schüler:innen und Supervisand:innen als auch aufgrund meiner wirtschaftlich langjährigen Erfahrung in der Arbeit mit Unternehmen und Gründer:innen weiß ich: In kaum einem anderen Bereich ist die Angst im Hinblick auf die Selbstständigkeit mit einer eigenen Praxis auf der einen Seite gleichsam so groß wie die Auswirkungen und Folgen auf der anderen Seite zu wenig bedacht werden. Doch wie kommt das, wo doch gerade das Gewerbe der Diplomierten Lebens- und Sozialberater:innen eines ist, in dem die Gründungskosten so überschaubar sind, wie in kaum einem anderen Unternehmenszweig? Meine Beobachtungen der vergangenen Jahre zeigen, dass es gleichzeitig in wenig anderen Bereichen so viele Hemmungen gibt, Geld für eine Leistung zu verlangen, wie in der psychologischen Tätigkeit. Denn viele meiner Schüler*innen beschreiben, dass sie in ihrem Quellberuf und im Freundes- sowie Bekanntenkreis ohnehin bereits die erste Anlaufstelle sind, wenn jemand Probleme oder Sorgen hat.
Gerade diese grundlegend vorhandene Empathiefähigkeit, die neben der fachlichen Qualität professionelle Berater:innen auszeichnet, ist für viele Auszubildende ja oft auch der ausschlaggebende Grund, um überhaupt mit der Ausbildung zur psychologischen Beratung zu beginnen. Und plötzlich soll man für etwas Geld nehmen, das man (vermeintlich) ohnehin schon die ganze Zeit – quasi ehrenamtlich – gemacht hat? Die schlichte Antwort ist: ja. Denn das eine sind private Zuwendungen und das andere ist ein professionelles Beratungsangebot, das einem gewissen Rahmen unterliegt, zu dem auch ein seriöses Bezahlungssetting gehört. Sich im psychologischen Beratungsbereich selbstständig zu machen, bedeutet also, dass es den Mut braucht, Geld in die Hand zu nehmen. Sowohl für die Gründung als auch von den Klient:innen.
Wirtschaftliches Denken Voraussetzung für Aufrechterhaltung von Beratungsangeboten
Der Dreh- und Angelpunkt für eine erfolgreiche Selbstständigkeit ist also, sich bewusst zu werden, dass psychologische Beratung in freier Praxis kein Ehrenamt ist. Denn immerhin wollen sowohl die Praxisräumlichkeiten, das Finanzamt, die Sozialversicherung, die eigene Supervision, das Kopierpapier, die Fortbildung, die Software und die Kammerumlage bezahlt werden und leben möchte man schließlich ja auch noch von etwas. Kurzum: Eine „ehrenamtliche“ Praxis kann wirtschaftlich nicht bestehen und bringt damit auch den Hilfesuchenden nichts. Das Investment in ein professionelles Beratungssetting und in die eigene Bekanntheit sollte also nicht unterschätzt werden. Nicht umsonst gibt es sogenannte „Vorgründungskosten“, die sich abschreiben lassen. Denn erfolgversprechende Gründungen und der Aufbau von etwas Eigenem laufen nicht kostenfrei ab. Gleichzeitig herrschen oft haarsträubende Horrorvorstellungen darüber, wie hoch die Kosten für gewisse unterstützende Dienstleistungen oder Raummieten sind, weswegen angehende Selbstständige uninformiert und teils völlig zu unrecht auf professionelle Unterstützung verzichten. Alles selbst zu machen – vor allem die Dinge, die weder Freude bereiten, noch im eigentlichen Kompetenzbereich liegen –, kann ebenso rasch in den Verlust des Traumes von der eigenen Praxis wie in ein Burn-out führen. Gleichzeitig ist demotivierender Frust langfristig unvermeidlich, wenn auf Dauer kein oder ein deutlich zu geringes Honorar an die Klient*innen gestellt wird.
Das Thema der Finanzen wird all zu oft nahezu verdrängt, wiewohl es ein grundlegend wirtschaftliches Denken braucht, um als psychologisches Angebot überhaupt bestehen zu können. Doch neben diesem wesentlichen Faktor habe ich in den vergangenen Jahren auch noch weitere gute Gründe beobachtet, die sowohl für als auch gegen eine Selbstständigkeit in freier psychologischer Praxis sprechen. Auch wenn das Thema freilich bei allen angehenden Berater*innen ein höchst individuelles ist und die folgenden Punkte keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit haben, möchte ich besonders häufige Beobachtungen heute mit Ihnen dazu teilen.
Wann es Sinn ergibt, Ängste zu überwinden und den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen:
- Wenn die fachliche Kompetenz und eine professionelle Beratungshaltung prinzipiell vorhanden ist. Hier können Sie gerne auch Ihre Ausbilder*innen bitten, Ihnen ein ehrliches Feedback zu geben, ob Sie in Ihrem Ausbildungsstatus bereits als sicher genug in Ihrer Arbeit erlebt werden.
- Wenn die Bereitschaft zum anhaltenden Lernen, Fortbilden und vor allem zu einer engmaschigen Supervision vorhanden ist.
- Wenn das Verständnis gegeben ist, dass gerade die psychologischen Arbeit nicht ausschließlich in Kursen, aus Büchern oder durch Rollenspiele im Trockentraining erlernt werden kann. Sondern dass es darüber hinaus das praxisorientierte Lernen in einem realen Setting und damit auch den Mut zur unter Supervision gestellten Lücke braucht, echte beraterische Erfahrung zu sammeln und damit die eigene Profession aufzubauen sowie zu stärken.
- Wenn der Beruf mit Freude ausgeübt wird und gleichzeitig die Fähigkeit zur Abgrenzung und die Verantwortung für eine ausgewogene Work-Life-Balance vorhanden ist.
- Wenn die Gründung wohl überlegt, geplant und neben der fachlichen Qualifikation von einer eigenen tiefen Überzeugung des Gelingens sowie von einer wirtschaftlich fundierten Herangehensweise getragen ist.
- Wenn die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren, prinzipiell in einem ausgeprägten Maß vorhanden ist.
- Wenn ein realistischer Blick auf den Beginn der Gründungsphase gelegt wird, der das Wissen beinhaltet, dass für einen professionellen Außenauftritt auch ein – zumeist überschaubares – Maß an Investitionen maßgeblich ist.
- Wenn ein gewisser Biss und vor allem auch ein bisweilen langer Atem vorhanden ist, mit dem konsequent und dauerhaft an der Umsetzung einer gut gehenden Praxis gearbeitet wird.
- Wenn erlebt wurde, dass bereits das Sammeln der Praktikumsstunden für das Lösen des Gewerbescheins aktiv, konsequent und in einem überschaubaren Zeitrahmen geleistet werden konnte.
- Wenn man schon den „in Ausbildung unter Supervision“-Status gut für sich genutzt hat, um sich ein Netzwerk auf- und erste Erfahrungen auszubauen.
- Wenn man prinzipiell bereit ist, sich Unterstützung in verschiedensten Bereichen zu holen, falls man merkt, dass etwas ins Stocken geraten oder gar nicht erst in Fluss gekommen ist.
- Wenn die Bereitschaft vorhanden ist, sich selbst und das eigene Tun in der Selbstständigkeit immer wieder zu reflektieren sowie gegebenenfalls von außen evaluieren zu lassen, um betrieblicher Starre und Betriebsblindheit vorzubeugen.
- Wenn man bereit ist, den eigenen Erfolg auch annehmen und zulassen zu können.
Wann es sinnvoller ist, die Selbstständigkeit (vorerst) noch einmal gründlich zu überdenken:
- Wenn das Helfenwollen das Helfenkönnen noch übersteigt. Das meint, dass es manchmal trotz hoher Motivation fachlich und auch persönlich noch nicht empfehlenswert ist, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Hier gilt es, kritikfähig für das eigene Können in der Ausbildung und in der Supervision zu bleiben, um sich letztlich die für das Klient*innenwohl so wichtige Professionalität anzueignen.
- Wenn die Vorstellung vorherrscht, dass ein Instagram-Account oder eine Facebook-Seite sowie ein einmalig mit 50 Euro beworbenes Posting zu 20 regelmäßigen Klient*innen gleichzeitig führt.
- Wenn man Schwierigkeiten hat, die vorgeschriebenenen Stunden der fachlichen Tätigkeit mit dem bestehenden (Berufs-)Alltag unter einen Hut zu bekommen.
- Wenn man sich prinzipiell ungern selbst organisiert und man eigentlich viel lieber in einem Team und im geschützten Rahmen einer Institution arbeiten möchte.
- Wenn man den Quellberuf verloren hat und „halt irgendwas machen“ möchte, weil „einem eh immer alle alles erzählen“.
- Wenn man mit Erreichen des Gewerbescheins denkt, dass sich jede weitere Investition in fachliche Fortbildung und Supervision erledigt hat.
- Wenn man das Gefühl hat, man könnte oder sollte den Klient*innen nahebringen, wie sie ihre Themen zu behandeln haben oder sie lösen sollen.
- Wenn man eine Ausbildung nach der anderen absolviert und lieber die 14. Fortbildung besucht, anstatt an irgendeinem Punk aktiv in die Praxis zu gehen. Denn der Drang, immer noch mehr Theorie zu sammeln, kann ein Versuch sein, eine eventuell auch unbewusst vorhandene Angst vor realen Klient:innen zu überlagern. Daraus kann nicht nur eine sich selbst verstärkende Vermeidungsstrategie entstehen, die letztlich dazu führt, dass qualifizierte Berater:innen nie den Schritt in die Praxis wagen, sondern eine solche „Flucht in die Fortbildung“ kann neben destruktiver Angst gleichzeitig Frust auslösen, der wiederum bearbeitet werden sollte, bevor man sich tatsächlich echten Klient:innen zuwendet.
- Wenn man zuerst auf die Klient:innen wartet, bevor man in ein professionelle Setting, wie seriöse Praxisräume oder Türschilder sowie in eine eigene Website oder Visitenkarten investiert.
- Wenn man keinerlei wirtschaftliches Know-how besitzt und dabei gleichzeitig auf die unterstützende Expertise von Gründungsspezialisten verzichtet.
- Wenn die äußeren Rahmenbedingungen sowie die innere Geduld dafür fehlen, sich in den oft zitierten und genauso oft benötigten ersten drei bis vier Jahren konsequent dem eigenen Unternehmen zu widmen, bis ein nachhaltiger Kund:innenstock aufgebaut ist.
- Wenn man generell rasch die Motivation für Dinge verliert, die nicht sofort exakt nach dem ursprünglichen Plan laufen.
Wir unterstützen auch angehende LSBs anderer Ausbildungsträger auf dem Weg in die Selbstständigkeit
Sie sehen also schon: Es gibt viele gute Gründe für die Selbstständigkeit und es gibt durchaus auch Faktoren, bei denen sich die eigene Praxis (noch) als unpassend gestaltet. Am IFGE ermutigen und unterstützen wir alle unsere Schüler*innen, die prinzipiell in der eigenen Praxis arbeiten wollen, individuell dabei, sich ihren Traum von der Selbstständigkeit so zu erfüllen, dass er auch Sinn ergibt. Und zwar zum passenden Zeitpunkt.
Sollten Sie sich derzeit in Ausbildung be- und vor allem in den Punkten wiederfinden, die derzeit noch für etwas Geduld bei der Gründung sprechen, können Sie sich jederzeit gerne unsere IFGE-Expertise und wirtschaftliche Gründungsunterstützung in Form von Gruppensupervisionen oder in unseren Gründungs-Workshops und Planspielen nutzen. Diese sind auch für angehende Lebens- und Sozialberater*innen anderer Ausbildungsträger geöffnet. Und wer weiß: Womöglich ergibt dann auch für Sie ganz rasch der Schritt in die Selbstständigkeit tatsächlich Sinn!
Silvia Podlisca
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