Ist Traumatisierung das neue Burn-out? Vom achtsamen Umgang mit Begriffen

Immer häufiger höre ich in meiner Beratungspraxis Selbstdiagnosen wie „Ich bin traumatisiert von …“. Solche Aussagen sind sehr ernst zu nehmen. Doch nicht immer steckt dahinter tatsächlich eine Traumatisierung. Wo die Unterschiede liegen und wieso wir im Alltag mit diagnostischen Begriffen vorsichtig sein sollten.
„Kollege Huber ist ja richtiggehend depressiv!“
„Du bist doch schizophren!“
„Das ist ja schon eine Angststörung bei der Conny!“
„Was hast du denn da wieder in deiner Manie aufgeführt?“
Kennen Sie das? In Alltagsgespräche fließen häufig ganz unbewusst psychiatrische und psychotherapeutische Begriffe ein, die unangenehme oder unerwünschte, aber an sich normale Verhaltensweisen plötzlich zu krankhaften diagnostizieren. Nach zwei Jahrzehnten in der psychosozialen Praxis weiß ich: Menschen neigen in bestimmten Situationen dazu, sich selbst oder andere zu pathologisieren – also bestimmte Dinge als krankhaft darzustellen. Das ist also an sich kein Trend, und doch gibt es so etwas wie einen Mode-Begriff in der privaten Diagnostik: Denn während der vielen Jahre meiner Tätigkeit ist mir aufgefallen, dass immer wieder neue Krankheitsbilder im Alltagssprachgebrauch quasi „modern“ werden. War es lange Zeit der Narzissmus, den sich gefühlt alle Menschen in schwierigen Beziehungen gegenseitig in Paarberatungen an den Kopf geworfen haben, ist es einige Jahre später der Begriff Burn-out gewesen, der plötzlich beinahe flächendeckend jedem Mensch in einer stressigen Phase attestiert wurde. Nicht zu vergessen, die Borderline-Störung, die man schnell einmal in privaten Gesprächen für alle parat hatte, die mit Nähe und Distanz anders umgingen, als man es sich vielleicht selbst gewünscht hätte.
Nicht alles, was belastend ist, ist ein Trauma
Auch die Psychologie kennt also Mode-Erscheinungen. Nun gut – „Was soll daran das Problem sein?“, werden Sie vielleicht fragen. Und diese Frage ist berechtigt. Für die Antwort möchte ich mich heute dem aktuellen Modebegriff in hobbypsychologischen Betrachtungen widmen: der Traumatisierung. Seit einiger Zeit beobachte ich, dass das Thema Trauma zunehmend zweifelhaften Ruhm erlangt. So kommt es, dass immer häufiger ein großes Wort gelassen ausgesprochen wird. Meiner Ansicht nach ZU gelassen:
- „Ich bin schon ganz traumatisiert von Tinderdates, die Frauen melden sich danach einfach nicht mehr.“
- „Ich glaube, dass ich ein Trauma davongetragen habe, weil ich in meiner Jugend erst viel später fortgehen durfte als meine Freundinnen.“
- „Kein Wunder, dass meine Beziehungen nie klappen, ich bin einfach nachhaltig traumatisiert von den Streitereien meiner Eltern.“
- „Ich halte die Präsentation sicher nicht, ich hab ein Trauma, vor Menschen zu reden, weil mich meine Lehrerin damals gezwungen hat, vor der ganzen Klasse das Referat zu halten, obwohl ich nicht vorbereitet war.“
Problem: Selbstdiagnosen als Grund für Resignation
Ständig sitzen gelassen zu werden, sich zurückgestellt fühlen, ein konfliktreiches Elternhaus erlebt zu haben, tiefgehende Kränkungen und unangenehme Schulerfahrungen sind zweifelsohne für viele Menschen nachhaltig negative und bisweilen belastende Einflüsse. Erfahrungen, die es manchmal schwer machen, an eine gute und glückliche Zukunft auch nur zu denken. Aber sollen sie wirklich der Grund dafür sein, dass im erwachsenen oder auch schlicht späteren Leben gewisse Dinge einfach nicht mehr als positiv erlebt werden können?
Für mich ist die Antwort hier ein klares Nein. Denn es würde gegen meine gesamte lösungsorientierte Haltung sprechen, dass sich ein Mensch, aufgrund welcher Erfahrungen auch immer, nicht mehr eigenverantwortlich und aktiv für eine positive und konstruktive Zukunft entscheiden könnte. Meiner Erfahrung nach ist es viel eher so, dass alleine durch das Überstehen belastender Phasen und herausfordernder Situationen genau die Ressourcen entwickelt werden, die es für ein kraftvolles Weiterleben braucht. Denn im Überleben an sich liegt bereits eine der stärksten Ressourcen. Auch wenn diese Ressourcen gelegentlich noch versteckt in den Betroffenen schlummern und beispielsweise erst durch professionelle Beratung ins Bewusstsein rücken, um damit in ihrer ganzen Kraft genutzt werden zu können. Dafür ist es nicht zwingend nötig, eine schwere und leidvolle Vergangenheit immer wieder neu zu erleben. Ich persönlich halte es hier mit dem systemisch-lösungsorientierten Beratungsansatz, den der Arzt und Hypnotherapeut Gunther Schmidt maßgeblich mitgeprägt hat: Anstatt aktiv die Schwere in die Beratung zu holen, geht es viel eher darum, sich bewusst auf die neue, gewünschte Realität zu konzentrieren.
Und hier beginnt der springende Punkt, an dem ich mich gegen leichtfertig ausgesprochene (Selbst-)Diagnosen ausspreche: Sie können in vielen Fällen der Grund für Resignation sein. Resignation heißt dann gelegentlich, damit aufzuhören, sich aktiv ein zufriedenes Leben zu gestalten. Für ein bewusst gestaltetes Leben nach eigenen Wunschvorstellungen braucht es allerdings Eigenverantwortung und aktiven Handlungswillen – sprich: das Gegenteil von Resignation. Sich selbst als krank und damit der Situation ausgeliefert zu sehen, fördert also Passivität und damit Rückzug. Das führt im ungünstigsten Fall dazu, dass man dann tatsächlich seelisch erkrankt.
Unterschied Trauma und Traumatisierung
Aber lassen Sie uns ein paar Begriffe zu dem Thema doch erst einmal genauer aufdröseln, um dadurch mit einigen Missverständnissen aufzuräumen. Denn wichtig ist, im Folgenden die Unterschiede zu kennen.
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Belastendes Ereignis – Ein belastendes Ereignis oder tiefe Kränkungen können sich in besonderem Maße äußerst schrecklich für eine betroffene Person anfühlen. Allerdings sind trotz der erheblichen Belastung bei der Person genügend Bewältigungsstrategien vorhanden, um mit der Situation einen Umgang zu finden oder aktiv in das Geschehen einzugreifen.
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Trauma – Ein Trauma (aus dem Altgriechischen für „Wunde“) ist nach DSM, dem diagnostischen und statistischen Leitfaden psychischer Störungen, ein Erlebnis, bei dem ein Mensch eine erhebliche Bedrohung für seinen Körper oder seine psychische Integrität erfährt, die unter anderem mit dem Gefühl ausgeprägter Hilflosigkeit einhergeht. Im aktuellen Moment steht keine Bewältigungsstrategie zur Verfügung und das Ereignis übersteigt die derzeitige Belastungsgrenze des Menschen. Die zur Verfügung stehenden Handlungsstrategien sind von Mensch zu Mensch individuell, was auch erklärt, warum für eine Person ein Raub ein belastendes Ereignis und für die andere ein Trauma darstellen kann. Und das muss nicht zwingend in die Erkrankung führen. Denn die Überwindung eines Traumas oder auch mehrerer Traumata kann ebenso die Basis der „sekundären Resilienz“ sein. Während wir die „primäre Resilienz“ bereits in den ersten Lebensjahren erwerben, ist mit der „sekundären Resilienz“ gemeint, dass wir durch die Bewältigung belastender oder traumatischer Erfahrungen über uns hinauswachsen und daraus lernen können, um damit eine innere Resistenz gegen künftig ähnliche Ereignisse zu entwickeln. Wer gerne mehr über die Bewältigung von Traumata unter widrigsten Bedingungen erfahren möchte, dem empfehle ich das Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ des österreichischen Psychiaters und Begründers des Existenzanalyse Viktor Frankl.
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Traumatisierung und Posttraumatische Belastungsstörung – Wenn das traumatische Ereignis die Belastungsgrenzen eines Menschen übersteigt, sich vielleicht sogar noch mehrmals wiederholt und das Erlebnis bzw. die Ereignisse nicht bearbeitet und verschmerzt werden, so können sie sich als Traumatisierung festsetzen. Dadurch kann eine sogenannte Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entstehen. Von ihr spricht man dann, wenn die normalen Reaktionen auf ein Trauma, wie zum Beispiel Übererregung und innerliches Wiedererleben, über mehrere Wochen anhalten und damit chronisch werden. Je nachdem, ob es sich um eine einfache oder komplexe Posttraumatische Belastungsstörung handelt, können dazu auch noch andere Symptome wie Ängste, Depressionen oder ein Selbstverlust kommen. Die Posttraumatische Belastungsstörung ist eine psychische Erkrankung, die psychotherapeutisch behandelt wird.
Sie haben Einfluss darauf, ob ein Trauma zur Erkrankung und somit zur Traumatisierung wird
Die wichtige Nachricht hier ist: Zur tatsächlichen Erkrankung nach einem Trauma, also zur Posttraumatischen Belastungsstörung, muss es nicht zwangsläufig kommen. Sie entsteht zwar aufgrund von intensiven oder wiederholt erlebten Traumata, ist aber keineswegs unausweichliche Folge.
Sie können das Entstehen beeinflussen und einer seelischen Erkrankung trotz des traumatischen Erlebnisses vorbeugen!
Das gilt übrigens nicht nur für selbst erlebte Traumata. Denn es hat sich gezeigt, dass die Reaktionen des Umfelds auf das Trauma eines Menschen Einfluss auf dessen Umgang damit haben. Mit einer mitfühlenden, Halt gebenden und unterstützenden Reaktion, die jedoch frei von zur Schau gestelltem Entsetzen und inszeniertem Drama ist, können Sie wichtiger Bestandteil für den Bewältigungsprozess eines Menschen sein, der selbst gerade ein Trauma erlebt hat.
Und wenn ein traumatisches Ereignis als Teil der Biografie ins Leben integriert werden kann, kann es häufig so verarbeitet werden, dass es keine ungünstigen Auswirkungen auf das weiterte Leben hat. In manchen Fällen wird die Traumaverarbeitung sogar zum Entwicklungsschritt, der es Menschen ermöglicht, sich gestärkt und mit zusätzlichen Handlungsstrategien neu zu orientieren. Das gilt übrigens auch für bereits lang zurück liegende Erlebnisse, die häufig als Trauma benannt werden, wie zum Beispiel das ständige Hadern mit der eigenen Kindheit oder vorangegangenen Beziehungen. Ja, vieles in Ihrem bisherigen Leben war vielleicht äußerst belastend und womöglich sogar traumatisch. Aber auch eine traumatische Kindheit lässt sich so ins Leben integrieren, dass es für Sie gut weitergehen darf.
Ob und wie ein Trauma also eigenverantwortlich verarbeitet wird, kann den Unterschied zwischen eine Stärkung des eigenen Selbst und einer entstehenden Erkrankung machen. Das zeigt wiederum klar, wie wichtig es ist, sich bei traumatischen Erlebnissen Hilfe zu holen. Psychologische Beratung beispielsweise hilft dabei, das Trauma zu be- und schließlich zu verarbeiten.
In diesem psychologischen Beratungsprozess geht es darum, dass sich die seelische Wunde langsam schließen darf, anstatt sich „unbeachtet“ zu einer chronischen Erkrankung zu entwickeln.
Die Bedeutung von Resilienz zur Verarbeitung von Traumata
Dieser Blogeintrag möchte weder das Krankheitsbild der Posttraumatischen Belastungsstörung verharmlosen, noch die intensiven Gefühle absprechen, die Menschen nach einem traumatischen Erlebnis durchmachen. Und er erhebt auch nicht den Anspruch, das unglaublich umfassende Thema „Trauma und Posttraumatische Belastungsstörung“ in seiner Gesamtheit zusammenzufassen. Viel eher möchte ich Sie mit diesem Blogeintrag dazu ermutigen, sich selbst an der Hand zu nehmen und mit Ihnen in ein starkes, selbstbestimmtes und zufriedenes Leben zu gehen, das Ihrer gewünschten Realität entspricht – und zwar Schritt für Schritt, in einem für Sie angenehmen Tempo. Denn es ist schon schwer genug, Traumatisches zu erleben. Aber es muss nicht zum Bestimmer Ihres restlichen Lebens werden. Die seelische Widerstandsfähigkeit (Resilienz) ist keine unbeeinflussbare Sache, die Sie in der gegeben Ausprägung hinnehmen müssten. Sie lässt sich stärken. Ihre eigene Resilienz können Sie beispielsweise durch diese Verhaltensweisen und Gedankenmuster positiv beeinflussen:
- Eignen Sie sich eine positive, optimistische Grundhaltung dem Leben gegenüber an.
- Stärken Sie Ihre Eigenverantwortung: Sie sind nicht verantwortlich, für das was Sie erlebt haben, aber welchen Umgang Sie damit wählen, haben Sie selbst in der Hand. Lassen Sie etwa Ihre Gedanken nicht ungefiltert zu. Es kann hilfreich sein, negative Gedanken bewusst zu stoppen: kurz und bündig mit einem (vielleicht auch laut für sich ausgesprochenen) „STOP – Schluss jetzt!“. Gleichzeitig können Sie Ihre Gedanken aktiv darauf lenken, was Sie jetzt benötigen und was Ihnen gut tut, wie beispielsweise „Ich brauche jetzt Zuversicht“ oder „Ich möchte jetzt Trost“.
- Verlassen Sie die passive Position: Erlauben Sie sich, sich weg von der Ohnmacht hin zur Handlungsfähigkeit zu bewegen.
- Stimmen Sie Ihrer Geschichte und dem, was Ihnen geschehen ist, zu. So lange Sie mit dem Erlebten hadern, wird es schwer möglich sein, es neu in Ihr Leben zu integrieren und zu verschmerzen. Ein lebenslanges Hadern ist manchmal der Hinweis, dass die Anklage zum falschen Empfänger bzw. zur falschen Empfängerin geht.
- Stärken Sie Ihr soziales Netzwerk, schaffen Sie sich ein Umfeld aus Bezugspersonen, die Ihnen Rückhalt bieten.
- Beginnen Sie Krisen und traumatische Erlebnisse als Entwicklungsmotoren Ihrer Biographie zu begreifen.
All diese genannten Punkte müssen Sie nicht alleine für sich neu in Ihr Leben integrieren. Psychologische Beratung kann Sie besonders beim Stärken Ihrer Resilienz intensiv unterstützen. Wenn Sie also gerade etwas Traumatisches erlebt haben oder eine traumatische Vergangenheit bearbeiten möchten, sind Sie nicht alleine. Und: Sie sind Ihren Erlebnissen nicht hilflos ausgeliefert, sondern Sie können aktiv etwas dazu beitragen, resilienter zu werden und zu lernen, wie Sie auch aus schlimmen Erfahrungen gestärkt und sicher hervorgehen.
Silvia Podlisca
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