Lehrer*innen an ihren Grenzen: Corona und die Folgen für Kinder
Der Lehrer:innen-Beruf steht verhältnismäßig weit oben in der Risikorangliste der Burn-out-Jobs. Ein psychisch ohnehin bereist sehr fordernder Berufsalltags in der Schule hat sich nach Corona noch einmal deutlich verändert. Was das für Pädagog*innen bedeutet und womit sie jetzt vermehrt konfrontiert sein werden.
Ständiger Lärmpegel, große Verantwortung, konstant geforderte Geduld, herausfordernde Gruppendynamiken, mangelnde Wertschätzung und emotionale Belastungen gehörten schon vor Corona in der Schule zum Arbeitsalltag dazu. Ein ohnehin bereits sehr forderndes und herausforderndes Arbeitsumfeld hat sich in den vergangenen Wochen noch einmal drastisch verändert: Unterrichtsmaterialien mussten auf völlig neue Art und Weise konzipiert und auf ganz ungewohntem Weg bereitgestellt werden. Das digitale Klassenzimmer, die unterschiedlichen technischen Möglichkeiten der Kinder und die ständige Ungewissheit – das alles ist nicht spurlos an Lehrer:innen, Schüler:innen und auch deren Eltern vorbei gegangen.
Neue Regeln – wie den Kindern nahebringen?
Und jetzt, da die Schule wieder ihre Tore geöffnet hat und der Unterricht unter völlig neuen Rahmenbedingungen stattfinden muss, kommen auf das Lehrpersonal zusätzlich zur Grundanstrengung, die der Beruf mit sich bringt, ganz neue sachliche sowie emotionale Herausforderungen zu: Masken, spezielle Vorgaben für die Pausen, Leistungsbeurteilung nach Augenmaß, Hygieneauflagen, bis zum Sommer entschuldigte Kinder, neu zusammengestellte Klassen, Schichtsysteme. Was Oberstufenschüler:innen vielleicht noch eher begreiflich gemacht werden kann, wird an Unterstufen, der Neuen Mittelschule und vor allem in der Volksschule besonders einfühlsame Überzeugungsfähigkeiten der Lehrer:innen brauchen. Wie der 12-Jährigen erklären, dass die Maske in der Pause oben bleiben muss, wo sie doch merkt, dass das Atmen darunter auch den Lehrer:innen schwer fällt? Wie soll man dem 7-Jährigen klar machen, dass er nicht so ungezwungen mit Schulfreund*innen spielen soll wie vor Corona? Es wird nicht weiter verwundern, wenn eine große Zahl an Pädagog:innen bis zu den Sommerferien immer wieder an die eigenen Grenzen stößt.
Psychosoziale Dynamik als zusätzliche Herausforderung
Dabei wird die Überwachung der Einhaltung neuer Regeln in den Wochen nach dem Lock-down keineswegs die einzige Herausforderung für Lehrer:innen sein. Besonders jene Pädagog:innen, denen Kinder ein besonderes Vertrauen entgegenbringen, die ein sehr kümmerndes Verhältnis zu ihren Schüler*innen pflegen oder die in der Funktion als Vertrauenslehrer:in agieren, werden höchstwahrscheinlich Veränderungen an den Kindern bemerken, die nicht nur einen umsichtigen pädagogischen Zugang erfordern, sondern für die es teilweise ebenso die Kenntnis von psychosozialen Dynamiken brauchen wird. Aber warum?
Weil die vergangenen Wochen an niemandem spurlos vorübergegangen sind. Auch nicht an den Kindern. Versetzt man sich in ihre Lage, wird schnell deutlich, mit welch diffusen und auch konkreten Ängsten die jüngsten unter uns seit Ende März konfrontiert sind. Eine große Zahl der bewusstseinsbildenden, öffentlichen Fernsehwerbung richtet sich an Kinder und vermittelt: „Du musst brav sein, du musst aufpassen, damit Oma und Opa nicht mit einer tödlichen Krankheit angesteckt werden.“ Was bedeutet das für Kinderseelen? Wie wirkt es sich auf den kindlichen Umgang mit anderen aus, wenn sich Kinder selbst als Gefahr erleben? Was hat die Distanz zu engen Vertrauten, Freund:innen und Spielkamerad:innen in ihrem Bewusstsein hinterlassen? Was hat es für ein Kind in den vergangenen Wochen bedeutet, nicht die gleichen – oft finanziell relevanten – technischen und digitalen Voraussetzungen für den Internetunterricht zur Verfügung zu haben, so wie sie es bei ihren Mitschüler*innen gesehen haben? Welchem eigenen Stress, welchem Druck der Eltern, welcher Unsicherheit und welchen möglichen Aggressionen waren sie zu Hause ausgesetzt?
Quarantäne fördert Konzentrationsschwierigkeiten
Dass in der Isolation bzw. der forcierten Nähe in Zeiten der Quarantäne schwelende Konflikte in Familien besonders leicht eskalieren können, darin sind sich die meisten Experten einig. Noch kann keiner ganz genau sagen, wie die Auswirkungen der Covid-19-Maßnahmen auf die Kinderseelen genau aussehen werden. Für Langzeituntersuchungen ist der Zeitraum einfach noch zu knapp. Fest steht aber, dass schon nach kurzer Zeit des ständigen Zuhausebleibens Verhaltensäderungen an Kindern festgestellt wurden. So hat etwa eine Beobachtung aus Spanien (1) kürzlich gezeigt, dass Konzentrationsprobleme und Hibbeligkeit im Lock-down bei den Kindern zugenommen haben.
Kindern geht es gerade „nicht so gut“
Erfahrungswerte zeigen, dass eine Isolation bestehende psychische Probleme verstärken kann. Das gilt sowohl für Angst- und Depressionsmuster als auch für destruktive Aggressionsprobleme. Auch hier könnte die Sorge vieler Lehrer:innen entstehen, wie sie einen neuen Umgang mit veränderten Persönlichkeitsstrukturen der Kinder finden können. Ein Schüler, der ohnehin bereits sehr schüchtern agiert hat, könnte sich in der Quarantäne noch weiter in sich zurück gezogen haben und für Pädagog:innen nun noch schwerer erreichbar sein. Eine Schülerin, die bereits für ihre rebellischen Tendenzen bekannt war, könnte mit verstärkter Aggression auf die neuen Regeln an der Schule reagieren. Und einige Kinder werden die diffusen oder teils ganz realen Existenzängste ihrer Eltern in sich spüren. Aus Untersuchungen zu anderen krankheitsbedingten Quarantäne-Situationen weiß man außerdem, dass bei bis zu 30 Prozent der Kinder in dieser Situation Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung zu finden sind (2). Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch eine aktuelle Umfrage der Österreichischen Kinderfreunde (3), nach der über die Hälfte der Kinder und Jugendlichen vor allem Freund*innen vermissen. Über 30 Prozent würden sich wünschen, dass bald „alles wieder normal“ ist. „In Summe war der Lock-down für Kinder sehr belastend. Nicht einmal jedes zweite befragte Kind gab an, dass es ihm ‚eh gut‘ geht. Die Mehrheit fand sich zwischen ‚es geht so‘ (43%), ‚nicht so gut‘ (10,4%) oder ‘schlecht’ (3,2%) ein“, erklärt dazu der Bundesvorsitzende der Kinderfreunde Christian Oxonitsch in einer Presseaussendung.
Der neuen Herausforderung als Lehrer*in gewachsen sein Wie also damit umgehen? Machen Sie sich bewusst, dass Sie „nur“ der Lehrer oder die Lehrerin des Kindes sind. Ziehen Sie sich abseits des pädagogischen Handelns innerlich zurück und achten Sie gut auf Ihre eigenen Grenzen. Überprüfen Sie, wie sehr Sie mit Ihren Gedanken und mit Ihrem innerem Handeln in den inneren Kreis der Familie eingetreten sind und ziehen Sie sich davor zurück. Damit Sie selbst aktiv, empathisch aber vor allem gesund in Ihrer Profession für Ihre Schüler:innen da sein können.
Falls Sie das Gefühl haben, dass Ihnen zusätzlich zu Ihren pädagogischen Fähigkeiten in diesen besonderen Zeiten Wissen rund um psychologische Dynamiken Ihren Job als Pädagog:in erleichtern könnte, ist vielleicht unsere Fortbildung für Vertrauenslehrer*innen für Sie von Interesse. Mehr dazu hier.
Silvia Podlisca
Quellen:
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